Kleider machen Juden. Jüdische Kleidung, Mode und Textilproduktion zwischen Selbstbestimmung und Zwang. 32. Internationale Sommerakademie des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs

Organizer(s)
Institut für jüdische Geschichte Österreichs
Funded by
Land Niederösterreich, Stadt Wien
ZIP
1090
Location
Wien
Country
Austria
Took place
In Attendance
From - Until
05.07.2023 - 07.07.2023
By
Merle Bieber / Benjamin Grilj / Sabine Hödl, Institut für jüdische Geschichte Österreichs, St. Pölten; Martha Keil, Institut für österreichische Geschichtsforschung, Universität Wien

Kleidung ist seit jeher ein semantischer Code, der gelesen und entschlüsselt werden kann. Sie erlaubt unmittelbar eine soziale Kategorisierung, die sich stets zwischen Freiheit und Zwang bewegt. Während sie in der Vormoderne vor allem von äußeren Vorgaben definiert wurde, ist sie in der Moderne und Gegenwart zunehmend Ausdruck selbstbestimmter Identität. Bei Minderheiten und historisch marginalisierten Gruppen wie Jüdinnen und Juden geht es in besonderem Maße auch um Sichtbarkeit, die teils von außen bestimmt und teils selbst gewählt wird. Die innerjüdische Aufklärung (Haskala) und die Gewährung bürgerlicher Rechte revolutionierten jüdisches Leben und damit auch Kleidung, wobei der Wunsch nach Teilhabe und Gleichberechtigung deutlich zum Ausdruck kam. Die Tagung diskutierte Kleidung, Mode und Textilproduktion als Aspekte jüdischer Kultur, aber auch im Kontext von Migration, Flucht und Holocaust.

MARTHA KEIL (St. Pölten) beschäftigte sich anhand bildlicher und schriftlicher Quellen jüdischer und christlicher Provenienz mit der Frage, wie sich Jüdinnen und Juden im mittelalterlichen Österreich kleideten. Im Fokus stand neben anderen alltäglichen Kopfbedeckungen wie Kappen und Gugeln der sichtlich bei feierlich-rituellen Anlässen getragene „Judenhut“, wobei deutlich wurde, dass dieses Attribut in bildlichen Darstellungen sowohl fremd- als auch selbstbestimmt sein konnte. Das heute oft geäußerte Verständnis als reines Stigma-Zeichen lässt sich aus den Quellen nicht belegen – wie beispielsweise die Kremser Ketubba von 1391/92 beweist, in der sich der Bräutigam mit einem „Judenhut“ darstellen ließ. Darüber hinaus zeigt sich, dass säkulare jüdische nicht von christlicher Kleidung unterscheidbar war, womit auch die Vorstellung von klar trennbaren gesellschaftlichen Gruppen relativiert werden muss. Zwar kann mangels erhaltener Sachquellen keine Aussage zu Materialität und zum realen Aussehen von Judenhüten und anderer Kleidung von Juden und Jüdinnen im österreichischen Mittelalter getroffen werden. Doch in den unterschiedlichen jüdisch-christlichen Kontaktzonen wussten die Angehörigen beider Gesellschaften die Merkmale wie Stoff, Farbe und Schnitt zu deuten und einzuordnen.

GABRIELA SCHLICK-BAMBERGER (Frankfurt am Main) beschrieb Kleidervorschriften auf der Grundlage innerjüdischer Quellen. Obwohl das Judentum vielfältig ist, etablierten sich dennoch Bekleidungsgebräuche, die sich in Teilen über Jahrhunderte bis heute erhalten haben. Was Kleidung bedeutet, hat seinen Ursprung in der Tora und den weiteren Büchern der hebräischen Bibel. Anhand dieser Texte diskutierten jüdische Gelehrte bereits in Mischna und Talmud ausführlich die unterschiedlichsten Aspekte von Kleidung und formten damit die einschlägigen Halachot, die religiös bindenden Gesetze. Gelehrte der folgenden Generationen konkretisierten bzw. deuteten diese halachischen Diskussionen. Daraus ergeben sich neben dem Bedecken der Nacktheit zwei Funktionen der Kleidung: Zum einen das Herstellen von Heiligkeit in der Gesellschaft und zum anderen das Herstellen der persönlichen Würde des und der Einzelnen. Der Vortrag zeichnete nach, wie die Gelehrten (u.a. Maimonides) in ihren Diskussionen, von praktischen Aspekten ausgehend, über die verschiedenen Funktionen der Kleidung halachisch das Idealbild der bescheidenen und tüchtigen Frau (Eschet Chail, Mischle) prägten, die sich respektabel und würdevoll, aber dennoch schön kleidet – ein Idealbild, das sich bis heute hält.

Der mittelalterlich-kirchlichen Gesetzgebung bezüglich Kleidung widmete sich STEFAN SCHIMA (Wien) in seinem Vortrag zu Kleidervorschriften im Vierten Laterankonzil von 1215. Konkret in seiner 68. Konstitution gab das 4. Lateranum vor, dass Jüdinnen und Juden sowie Muslima und Muslime, die unter christlicher Herrschaft lebten, durch die Art ihrer Kleidung von Christinnen und Christen unterschieden sein sollten. Der Wortlaut dieser Konstitution lässt auf bereits bestehende einschlägige Gebräuche schließen, die allerdings nicht näher erläutert werden. Im Mittelpunkt der Darstellung standen die Wurzeln, der Regelungszusammenhang und die Rezeption der 68. Konstitution.

In seinen Ausführungen zu Stigmatisierung, Selbstabgrenzung und Akkulturation durch Mode ging PETER RAUSCHER (Wien) am Beispiel des frühneuzeitlichen Erzherzogtums Österreich der Entwicklung der Normen für jüdische Bekleidung und der sich daraus ergebenden Konflikte nach. Gerade das Überschreiten der Regeln belegt, dass nicht nur die Grenzen der Ständegesellschaft, sondern auch die christlich-jüdischen Beziehungen in der sozialen Praxis weitaus fließender waren als von den Obrigkeiten erwünscht. Für die jüdische Bevölkerung, die außerhalb der christlichen Ständegesellschaft stand, erfüllte Bekleidung eine doppelte kommunikative Funktion: Durch das Tragen einer spezifischen Tracht hob man sich einerseits selbst aktiv von der christlichen Umwelt ab und konstituierte sich als Gruppe; andererseits dienten obrigkeitliche Bekleidungsvorschriften, vor allem der „Gelbe Fleck“, zur Stigmatisierung. Im täglichen Leben konnte die Kennzeichnung als „jüdisch“ massive Folgen für Leib und Leben nach sich ziehen, indem sie immer wieder Anlass für gewalttätige Übergriffe bot. Es zeigte sich aber auch, dass eine Vielzahl von Vorschriften über längere Zeiträume nicht zum Tragen kam.

Mit dem zionistischen Bestreben Ende des 19. Jahrhunderts, eine nationale jüdische Identität und einen eigenen Staat zu begründen, gewannen Fragen von Abgrenzung von den umgebenden nicht-jüdischen Gesellschaften an Bedeutung. Dies wirkte sich auf die Frage der Sichtbarkeit aus, die Einfluss auf die Kleidungswahl haben konnte oder das Anheften von Symbolen nach sich zog. Abwägungen, auf welche Weise man politische und kulturelle Zugehörigkeiten nach außen hin über Kleidung und Symbole ausdrücken wollte, spielten für viele zionistische Gruppen trotz unterschiedlicher politischer Färbung eine Rolle. Diesen Fragen ging SVENJA BETHKE (Leicester) in ihren Ausführungen zu zionistischen Kleidungsidealen und -realitäten in Erez Israel im Zeitraum 1880–1948 nach und kam zu dem Schluss, dass ein Blick auf Kleidung und Mode eine umfassende Auseinandersetzung mit tiefer liegenden Konfliktlinien und Identitätsfragen im vorstaatlichen Erez Israel ermöglicht und darüber hinaus einen fruchtbaren Zugang zur jüdischen Migrationsgeschichte darstellt.

Ab 1933 bzw. 1938, vor allem aber nach der Kapitulation Frankreichs 1940, zogen jüdische bzw. als Juden und Jüdinnen nach den „Nürnberger Rassegesetzen“ Verfolgte nach Portugal. Die Flüchtlinge trafen auf eine in vielen Bereichen sehr rückständige bzw. konservative Gesellschaft, was sich auch in der Mode ausdrückte. Kleidervorschriften für Frauen waren strikt und verlangten gedeckte, dunkle Farben und „anständige“ Rocklängen sowie Dekolletés. Die an mehr Freizügigkeit gewohnten (weiblichen) Flüchtlinge aus Mittel- und Westeuropa waren von den Restriktionen schockiert. Aufgrund von Armut, fehlender ökonomischer Perspektiven und Rückständigkeit sah der Großteil von ihnen Portugal nicht als Exil- sondern als reines Transitland. KATRIN SIPPEL (Wien) betrachtete in ihrem Beitrag zur Mode weiblicher jüdischer Flüchtlinge in Portugal um 1940 den Einfluss, den die Zugezogenen auf Kleidung und Mode der Aufnahmegesellschaft entwickelten, und inwieweit diese als Ausdruck ihres Selbstbewusstseins gelesen werden müssen.

Jüdischen Besitzern und Besitzerinnen von Modehäusern in Wien widmete sich REINHARD ENGEL (Wien). Er spannte dabei den Bogen von den jüdischen Mode- und Textilbetrieben ab 1850 bis zu deren „Arisierungen“ ab März 1938. Von den 5.318 von Jüdinnen und Juden geführten Wiener Textilhandelsgewerbebetrieben wurden „nur“ 408 „arisiert“, mehr als zehnmal so viele jedoch liquidiert – und vorher ausgeraubt. Von der Enteignung der jüdischen Wienerinnen und Wiener profitierten so auch jene, die nicht unmittelbar selbst zugegriffen haben – schließlich war damit die Konkurrenz entscheidend ausgedünnt worden. Von den vertriebenen und enteigneten Wiener jüdischen Textilkaufleuten kamen nach 1945 nur wenige zurück. In die Lücke stießen bald Neu-Zuzügler aus Osteuropa, die sich wieder im alten Textilviertel rund um den Salzgries ansiedelten.

ANDREA STRUTZ (Graz) präsentierte ihre Erkenntnisse zu Flucht und Vertreibung der Wiener Schneider- und Kaufmannsfamilie Rothberger. Sie schilderte das Schicksal und die Geschichte der Familie während des Nationalsozialismus und behandelte speziell die Flucht und Vertreibung von Heinrich und Ella Rothberger und ihrer beiden Söhne Johann und Fritz. Der Beitrag diskutierte neben Flucht- und Exil- sowie den Internierungserfahrungen der Söhne auch die weiteren Lebensverläufe der Familienmitglieder. Eine Rückkehr nach Österreich nach 1945 war undenkbar. Nach rund neun Jahren der Trennung wurde schlussendlich eine Familienzusammenführung in Kanada möglich.

Die steigende Bedeutung von Kleidung während der deutschen Besatzung in Polen und der damit einhergehenden Ghettoisierung thematisierte KATARZYNA WONIAK (Halle). Mit einer emotionsgeschichtlichen Herangehensweise wurde die Korrelation zwischen Kleidung und Überlebenswillen herausgearbeitet. Als Quelle dienten ausschließlich zeitgenössische Tagebücher und Briefe, die als Momentaufnahmen Einblick in die emotionale Verfassung der Schreibenden geben. Im Angesicht des Holocaust wurde Kleidung nochmals aufgewertet, insbesondere bei Versteckten. Einige Ghettobewohnerinnen und -bewohner deponierten im Angesicht der drohenden Vernichtung ihre Kleidervorräte bei polnischen Bekannten. Die schwer umkämpften Verstecke bezahlten sie oft mit dem Verkauf von deponierter Kleidung. Für die versteckten Jüdinnen und Juden wurden ihre aufbewahrten Kleidungsstücke zum Hoffnungsträger, in mehreren Fällen sicherten sie tatsächlich das Überleben.

Auch BENJAMIN GRILJ (St. Pölten) verdeutlichte, dass Kleidung Gegenstand des Überlebens sein konnte, wie dies beinahe in allen der von ihm im Band „Schwarze Milch“ (Innsbruck 2013) editierten 193 Briefen jüdischer Vertriebener aus den verschiedenen Lagern und Dörfern Transnistriens thematisiert wird. Anders als im Kontext einer „normalen“ Existenz in einem gesicherten Umfeld ging die Bedeutung von Kleidung über Schutz vor Kälte und Zeichen der Selbstrepräsentation weit hinaus. Sie wird in jeder Phase der Vertreibung und Internierung existenziell sichtbar und übernahm eine Reihe von Funktionen. So wurde sie gegen Lebensmittel getauscht, diente als Bettwäsche, als Wandverschlag gegen Feuchtigkeit und Kälte und garantierte als Produkt in den neu entstandenen Handwerksbetrieben das Mindestmaß zum Überleben. Ihre Bedeutung zeigt sich darüber hinaus aber auch ideell und emotional.

Der visuellen Semantik jüdischer Kleidung widmete sich MAŁGORZATA STOLARSKA-FRONIA (Augsburg). Die Darstellungen von Jüdinnen und Juden auf den Ansichtskarten aus Warschau zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten unterschiedliche Funktionen. Einerseits sollten sie auf den von nicht-jüdischen Produzenten verkauften Karten eine zufällige Momentaufnahme der Metropole mit ihrer multikulturellen Bevölkerung erzeugen – Jüdinnen und Juden als Teile des Mosaiks einer Großstadt. Andererseits zeigten die Ansichtskarten des jüdischen Verlags Jehudia Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Generationen, Berufe und Angehörige lokaler jüdischer Milieus, die sich in der Welt der Postkarten wohl wahrscheinlicher begegneten als auf den Straßen der Stadt. Die Vielfalt der Kostüme und die arrangierten Szenen, die das Fotoatelier darstellte, verfolgten offenbar das Ziel, das kulturelle Erbe zu bewahren.

Das Interesse an spezifisch jüdischer Kleidung und ihren Accessoires hat insbesondere in den 2000er und 2010er-Jahren eine Reihe von außergewöhnlichen Ausstellungen und begleitenden Katalogen hervorgebracht, die überkommene Vorstellungen von Mode, Uniformität, Produktion und sozialer Bedeutung hinterfragt haben. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass das Interesse an Bekleidung heute weder dem bloßen Gebrauchsgegenstand noch dem reinen Luxusartikel gilt, sondern der Kleidung als anthropologischer Größe. FELICITAS HEIMANN-JELINEK (Wien) problematisierte das Zeigen, Präsentieren oder auch Vorführen von Bestandteilen jüdischer Kleidung im musealen Rahmen. Diese Problematisierung war nicht als negative Kritik an gegenwärtigen Ausstellungspraktiken zu verstehen, sondern als offene Formulierung von Fragen zu dem, was wie warum ausgestellt oder auch nicht ausgestellt und auf welches Potenzial damit verzichtet wird. Das Medium Ausstellung legt eine Reduzierung historischer Phänomene auf einzelne Objekte nahe, wie problematisch diese Reduktion jedoch ist, zeigt sich in zahlreichen Ausstellungen weltweit.

Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts stieg die Zahl von Fotografien, die Jüdinnen und Juden in alpiner Tracht und Trachtenmode zeigen. Auf den ersten Blick mögen diese Fotografien heutige Betrachter erstaunen, gilt Tracht und Trachtenmode doch allgemein als österreichisches Nationalgewand, höchstens noch in einigen Trachteninseln getragen, und wird deshalb kaum mit jüdischen Trägerinnen und Trägern in Verbindung gebracht. Allerdings existierte ab 1900 bis 1938 innerhalb der jüdischen Bevölkerung eine breite Gruppe, die sich als Teil der österreichischen Ober- und Mittelschicht sah und deren Verhaltensweisen übernahm. MERLE BIEBER (St. Pölten) konnte zeigen, dass das Tragen von Tracht und Trachtenmode als Mittel der Akkulturation fungierte. Kinder und Jugendliche trugen Trachtenmode zu besonderen Anlässen, in der Sommerfrische, aber auch im schulischen Alltag tragen, die Generation ihrer Eltern zeigte sich vornehmlich bei Ausflügen und während der Sommerfrischeaufenthalte in Dirndl, Trachtenjanker und Lederhose.

In Bezug auf Provenienzforschung gelten Heimat- und Regionalmuseen in Österreich immer noch als weiße Flecken, da sie weder unter das Kunstrückgabegesetz noch unter die Landesgesetze bzw. Landesbeschlüsse fallen, die die Restitution von in der NS-Zeit entzogenem Kunstvermögen regeln, weil sie etwa als Vereins- oder Gemeindemuseen geführt werden. MONIKA LÖSCHER (Wien) beschäftigte sich am Beispiel des Kammerhofmuseums in Bad Aussee mit der Frage, wie regionalen Museen heute mit „schwierigen“ Erwerbungen umgehen. Die Familie Mautner wurde von den Nationalsozialisten als jüdisch verfolgt. Während ein Teil der Familie emigrieren konnte, verlor sich die Spur von Stephan und seiner Frau Elsa in Budapest; es wird angenommen, dass sie im Juli 1944 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurden. Ihre umfangreichen Trachtensammlungen gelangten in das im Jahr 1942 im Gasthof „Blaue Traube“ gegründete „Heimathaus“. Die beiden Trachtenkammern wurden nach 1945 nicht restituiert. Heute befinden sich Reste davon im Kammerhofmuseum Bad Aussee. Angeblich mussten die Kinder von Stephan Mautner einige Trachten nach Kriegsende als unentgeltliche Dauerleihgabe zur Verfügung stellen, um andere Objekte aus der Sammlung ihres Vaters ausführen zu können. Anna Mautner musste infolge eines Rückstellungsvergleichs die Trachtensammlung im Jahr 1949 um „billiges Geld“, wie es auf der Website des Museums heißt, an die Gemeinde verkaufen. Die Expertise der Kommission für Provenienzforschung galt lange als unerwünscht.

KATHRIN PALLESTRANG (Wien), MAGDALENA PUCHBERGER (Wien) und MARIA RAID (Wien), Kuratorinnen der Ausstellung „Gesammelt um jeden Preis“ im Volkskundemuseum Wien, zeigten in ihren Ausführungen zur Sammlung Mautner im Volkskundemuseum Wien anhand von Beispielen die Geschichte und die Kontexte zwischen der Textilindustriellenfamilie Mautner und der um 1900 aufblühenden, mit österreich-patriotischer Mission agierenden Volkskunde in Wien. Anhand der Sammlungen wird die besondere Bedeutung textiler Objekte für die Formung und Stärkung volkskundlicher wie auch nationalidentitätsstiftender Ziele verfolgt. Die „Sammlung Mautner“, die nach Entzug 1938, der Restitution 2018 und der danach erfolgten Schenkung am VKM verblieben ist, steht exemplarisch für die Schicksale der Sammlerinnen und Sammler des VKM mit jüdischen Wurzeln. Die entstandene Ausstellung stellt die gegenwärtige Provenienzforschung und die Rückgabe von Objekten mit den historischen Kontexten von Verfolgung, Flucht und Raub während des NS-Regimes in Verbindung.

Das in dieser Tagung chronologisch und inhaltlich weit gespannte Themenfeld Kleidung zeigte einerseits das historisch immer wieder sichtbar werdende Bedürfnis nach Kenntlichmachung bis hin zur Stigmatisierung von sozio-religiösen Gruppen, die eben nur mit Hilfe von Kleidung, Attributen und Zeichen voneinander unterschieden werden konnten. Die Beiträge führten andererseits vor Augen, wie bedeutsam auch für die jüdischen Gesellschaften Kleidung als Ausdruck von Selbstrepräsentation und Identität, in Zeiten extremer Not aber auch Mittel des Überlebens war. Darüber hinaus wurde einmal mehr die über den materiellen Wert hinausgehende Funktion von Kleidung als Objekt der Erinnerung und der emotionalen Anbindung an Herkunft und Familiengeschichte klar.1

Konferenzübersicht:

Martha Keil (St. Pölten): Wie kleideten sich Jüdinnen und Juden im mittelalterlichen Österreich?

Gabriela Schlick-Bamberger (Frankfurt am Main): Jüdische Vorschriften, Traditionen und Idealvorstellungen von Kleidung

Stefan Schima (Wien): Kleider machen Juden und Muslime, und das Vierte Laterankonzil 1215 macht Vorschriften

Peter Rauscher (Wien): „Er führt sich in Kleidung gleich einem Polaken“. Jüdische Stigmatisierung, Selbstabgrenzung und Akkulturation durch Mode im frühneuzeitlichen Österreich

Svenja Bethke (Leicester): „Angemessen“ und „tragbar“? Zionistische Kleidungsideale und -realitäten zwischen Europa und Erez Israel (1880–1948)

Katrin Sippel (Wien): Portugal 1940: Weibliche jüdische Flüchtlinge machen Mode

Reinhard Engel (Wien):Wiener Modehäuser in jüdischem Besitz

Andrea Strutz (Graz): Über Flucht und Vertreibung der Wiener jüdischen Schneider- und Kaufmannsfamilie Rothberger

Katarzyna Woniak (Halle): Kleidung als Hoffnungsträger. Das Verhältnis der jüdischen Bevölkerung zur Kleidung im Angesicht des Holocaust

Benjamin Grilj (St. Pölten): Kleidung als Gegenstand des Überlebens in Transnistrien 1941

Malgorzata Stolarska-Fronia (Augsburg): Visuelle Semantik jüdischer Kleidung auf Postkarten aus Warschau um 1900

Felicitas Heimann-Jelinek (Wien): Machen Kleider Juden? Zur Darstellung jüdischer Kleidung im Museum

Merle Bieber (St. Pölten): „Durch und durch österreichisch“. Trachtenmode zwischen Akkulturation und Identität

Monika Löscher (Wien): Die Trachtenkammern von Konrad, Anna und Stephan Mautner im Kammerhofmuseum in Bad Aussee: Der schwierige Umgang mit Provenienzforschung in regionalen Museen

Kathrin Pallestrang (Wien) / Magdalena Puchberger (Wien) / Maria Raid (Wien): Die Sammlung Mautner im Volkskundemuseum Wien

Kathrin Pallestrang (Wien) / Magdalena Puchberger (Wien) / Maria Raid (Wien): Kuratorinnenführung zur Ausstellung im Volkskundemuseum Wien: „Gesammelt um jeden Preis! Warum Objekte durch den Nationalsozialismus ins Museum kamen und wie wir damit umgehen“

Anmerkung:
1 Zur Tagung erschien die diesjährige Ausgabe der Institutszeitschrift Juden in Mitteleuropa: „Kleider machen Juden. Jüdische Kleidung, Mode und Textilproduktion zwischen Selbstbestimmung und Zwang. Juden in Mitteleuropa 2023, http://www.injoest.ac.at/de/publikationen/juden-in-mitteleuropa (03.10.2023)

Editors Information
Published on
Contributor
Classification
Temporal Classification
Regional Classification
Additional Informations
Country Event
Conf. Language(s)
English, German
Language